Auswanderung

Abreise

Als die Anker sich langsam hoben und der kleine Dampfer, der unser Schiff bugsierte, die Räder schaufeln ließ und mit uns die Elbe langsam hinabglitt, blieb kein Auge trocken. Es war ja der Abschied vom Vaterland und allem anderen, was den Auswanderern lieb und teuer war.“

Bericht von Theo Kleine, 1853 auf der Reise nach Blumenau.

abreise

 

Auf großer Fahrt

Um 1850 faßten die großen deutschen Segler 500 – 800 Tonnen. Die Mehrzahl der Flotte bestand aus kleineren Schiffen wie Barken, Briggs, Schoner, Zweimaster mit 100 bis 200 Tonnen.

Bark Neptun v Altona

Seine erste Brasilienreise unternahm mein Urgroßvater 1846 auf der Brigg Johannes „nicht sehr groß und etwas schmal, 200 Tonnen“, wie er schrieb und „ein guter Segler“. Ähnlich wie die Neptun können wir uns die Johannes vorstellen – vermutlich etwas abgenutzter.

Ab Mitte der Fünfzigerjahre des 19. Jahrhunderts überquerten Dreimaster, sogenannte Klipper, die Meere, in den Sechzigerjahren auch Tausendtonner.

Im Jahr 1838 fuhr das erste Dampfschiff über den Ozean.

Während der rund drei Monate dauernden Reise nach Brasilien starben regelmäßig Passagiere – an ansteckenden Krankheiten wie Cholera, denn das Trinkwasser zu der Zeit nicht nur knapp, sondern nach spätestens sechs Wochen, brackig und voller Keime. Untersuchungen auf Schadstoffe etc. gab es noch nicht. Auch die Ernährung, Speck, Salzfleisch, Hülsenfrüchte, Hartbrot, war schlecht und vitaminarm. Skorbut, jene Mangelkrankheit, bei der Zähne ausfielen, Knochen brüchig wurden, Organe versagten, war an der Tagesordnung. Seekrank wurden fast alle, und der Gestank war entsetzlich.

Auswanderer reisten meist in Frachträumen unter Deck, damit ohne Tageslicht, ohne Frischluft. Krankheiten verbreiteten sich rasend schnell, denn zur schlechten Luft in diesen ‘schwimmenden Särgen‘, wie Auswandererschiffe oft genannt wurden kamen katastrophale hygienische Zustände. Schmutz und Unrat lagen umher, weil es noch keine geordnete Abfallbeseitigung, keine Müllcontainer, keine Toiletten gab.

Wer es sich leisten konnte reiste als ‘Kajütpassagier‘ mit zwei oder drei Personen und aß mit am Tisch des Kapitäns.

Auch dies ‘Privileg‘ hatte seine Tücken. Wenn „der Kapitän“, wie Hermann Blumenau berichtete, „ein ekliger Kerl, ein ganz ordinärer Mensch“ war und von den Mahlzeiten, die, meist ähnlich schlecht als für Zwischendeckpassagiere waren, das Beste, z.B. vom ‘Sonntagshuhn‘ allein verzehrte.

Blumenau beschrieb es mehrmals und klagte über „schlechte, unverdauliche Kost“ und „einen widerwärtigen Magenzustand…“ und „die Seekrankheit macht alle Geisteskräfte wie die des Körpers so stumpf und schwach, dass man absolut unfähig wird,etwas Vernünftiges anzufangen und einen Gedanken zu fassen“.

Auf 28 Schiffen mit 13 762 Passagieren, die im November 1853 in New York eintrafen (Brasilien ist bekanntlich viel weiter entfernt), gab es 1141 Tote.

Ausnahme: Die große Olbers – ein Segler, der bereits 1828 nach Rio Grande do Sul unterwegs war.

olbersBericht eines Passagiers:

Die Olbers war so hoch, dass einem das Genick ganz steif wurde, wenn man hinaufschaute…

Nach 13 Wochen Aufenthalt in Bremen (Warten auf geeignete Windrichtung) fuhren wir mit einem Boot die Weser hinunter und gelangten zu dem großen Schiff ‘Olbers‘… Wir bestiegen es, lagen noch 14 Tage im Hafen und segelten am 26. September 1828 in die Nordsee ein… 

Wir befuhren glücklich und gesund das Weltmeer, hatten wohl eine beschwerliche, aber nicht gefährliche Fahrt. Keines von unserer Familie wurde krank, indessen von 874 Menschen, die auf dem Schiff waren, starben 47, groß und klein, die ihr Grab in den Meereswellen fanden… 

Den 17. Dezember 1828 kamen wir in Rio de Janeiro, der ersten Stadt in Brasilien an und hatten 3400 Stunden zurückgelegt von Bremen aus. Während der Überfahrt wurden 47 Kinder geboren.

Als wir in der Nähe der Sonnenlinie (Äquator) waren, wo die Hitze am größten ist, bekamen wir nur wenig und dazu schlechtes Wasser, so dass manche davon erkrankten. Die Leute, welche sich die Auswanderer zu ihren Vorstehern ausgewählt hatten, stellten dem Kapitän unsere Notlage vor. Dieser aber wurde bös und ließ vor seiner Kajüte eine geladene Kanone aufstellen…Als wir uns aber nicht einschüchtern ließen, gab der Kapitän nach, und wir bekamen mehr und auch besseres Wasser.“

Von denen, die einzeln, ohne fachkundige Beratung oder Führung brasilianischen Boden erreicht hatten, wusste fast niemand, dass auch hier Gefahr drohte: An Land wurden sie – nicht selten – von gewieften ‘Geschäftsleuten‘ mit dem Versprechen verlockt, bei einem Großgrundbesitzer Arbeit zu finden.

Schultze & Müller

Die Wirklichkeit sah anders aus: Weiße Sklaven‘, damals ein gängiger Begriff, wurden schutzlose Einwanderer ebenso schlecht ‘gehalten‘ wie ihre Leidensgenossen aus Afrika. Unkenntnis der Sitten und Gebräuche, der Mentalität, der portugiesischen Sprache bewirkten ein Übriges.

Wer allem entkommen war, sein Ziel erreicht hatte. begann mit der Arbeit und hoffte auf selbstbestimmtes Leben in Freiheit.

Rebellion auf dem Schiff

Bericht von Karl Kleine, 1853

Im Zwischendeck fing es an, unter den Immigranten zu gären, weil man wusste, dass noch besseres Wasser an Bord war, welches aber nur die Kajütenpassagiere und die Besatzung des Schiffes bekamen.

Endlich wurde ein Sprecher zum Kapitän gesandt, der energisch Abhilfe verlangen sollte. Unter sich aber hatten die Männer beschlossen, dass sie im Falle einer Abweisung Gewalt gebrauchen wollten, das heißt, sie wollten sich des guten Wassers bemächtigen, ohne jemandem ein Leid zu tun, wenn ihnen nicht der Kapitän bewaffnet gegenüberträte. Zum Sprecher hatten sich die Empörer unglücklicherweise meinen Vater gewählt, der zu einer solchen Mission viel zu hitzig war. Der Kapitän hörte ihn ungeduldig an und gab dann eine so grobe, abweisende Antwort, dass mein Vater aufbrauste und bittere Worte fallen ließ. Darüber geriet der Kapitän so in Zorn, dass er von „an den Mast binden“ und „in Ketten legen“ sprach. Er hätte seine Drohung wohl auch ausgeführt, aber die drohende Haltung der Passagiere hielt ihn davon ab…

Für die Passagier hatte der Vorfall das Gute, dass sie fortan besseres Wasser bekamen, denn der Kapitän hatte doch wohl gemerkt, was folgen würde und wollte es nicht aufs äußerste kommen lassen. Für meinen Vater aber trug es üble Folgen. So durften von dieser Zeit an weder mein Vater noch wir Brüder mehr in die Kajüte kommen, um unsere kranke Mutter zu sehen…

Endlich blähte Wind die Segel wieder! Der Alte Trog setzte sich langsam in Bewegung. Alle Leute auf dem Schiff lebten wieder auf und dankten Gott für die Rettung aus dieser schrecklichen Lage. Ein Opfer hatte diese aber doch gefordert.

Ein hübsches Mädchen von achtzehn Jahren starb ganz plötzlich, wahrscheinlich am Hitzschlag und wurde auf dieselbe Weise wie unser armes Schwesterlein (Selma) dem Ozean übergeben.

Gemütslage

Können wir uns hineinversetzen in die Stimmung deutscher Auswanderer, als sie die Küste jenes Erdteils erblickten, in den sie alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft gesetzt hatten?
Können wir uns vorstellen, was diese Menschen bewegte, als sie brasilianischen Boden betraten?

Warum vertrauten sie ihr Leben den unsicheren Planken eines Segelschiffes an – nicht selten uralte ‘Seelenverkäufer‘ –

schiffum nach drei Monaten ein Land zu erreichen, in dem über Bewohner, Sitten und Gebräuche höchst widersprüchliche, abenteuerliche, auch beängstigende Nachrichten im Umlauf waren? Wo die Sonne mittags im Norden steht, der Schrei wilder Tiere den Fremdling erschreckt, Kaimane an den Ufern der Flüsse lauern, Wildkatzen (onças) das Vieh der Siedler raubten, wo der Urwald, dicht wie eine Mauer, dem Eingewanderten Furcht einflößt?

Was mögen die ersten deutschen Einwanderer empfunden haben als sie 1824 eine fertige Siedlung im Südstaat Rio Grande do Sul vorfanden? Wie reagierten sie, als ihnen dort zugemutet wurde, im Notfall die Landesgrenze gegen argentinische Eindringliche zu verteidigen?

löwe

Was bewegte jene jungen Menschen, die, sechsundzwanzig Jahre später, überwältigt von Schönheit und Majestät einer nie geschauten Natur, vor einem Wald standen, in den einzudringen unmöglich schien, aber unumgänglich war? Denn ihre Kolonie in Santa Catarina mussten sie, anders als Landsleute in Rio Grande do Sul, ohne Sklavenarbeit selbst aufbauen. Dies war Bedingung des Gründers Dr. Hermann Blumenau (1819-1899) aus Hasselfelde im Harz.

Jutta Blumenau-Niesel

 

 

Reise nach Brasilien 

Auszüge aus den Notizen eines Auswanderers nach Blumenau in Brasilien von Karl Kleine, 1856. Sohn Theo veröffentlichte die Aufzeichnungen 1997unter dem Titel: BLUMENAU EINST – Erlebnisse und Erinnerungen eines Eingewanderten (Gramado, Rio Grande do Sul)

Wir beiden Knaben und mein Vater fuhren Zwischendeck. Unsere kranke Mutter mit dem Schwesterlein waren in der Kajüte untergebracht.

Wir beiden Jungen hatten auf der ganzen Seereise nicht die Spur von Seekrankheit, dagegen aber immer einen gewaltigen Appetit.

Die Kost war sehr „seemännisch“, d.h. schwer verträglich. Zusammengekochtes bestand aus salzigen, süßen, harten, weichen und, je länger die Reise dauerte, auch verdorbenen Zutaten. Wer das vertrug, konnte auch Ziegelsteine essen, ohne krank zu werden (wahrscheinlich waren die hygienischer).

Auch war das Wasser von Anfang an in einem solchen Zustand, daß wir uns immer im stillen wunderten, warum wir immer kalten Tee mit solch einem sonderbaren Geschmack trinken mußten, und meinten in unserer Unschuld, das müsse wohl ein probates Mittel gegen die leidige Seekrankheit sein, kamen aber doch bald dahinter, was das für Medizin war.

Das Essen war wohl reichlich, aber man denke sich einmal Graupen, Reis oder Klöße mit Sirup und Pflaumen in einem Topf mit Salzfleisch gekocht! Brr! Doch der Mensch gewöhnt sich ja schließlich an alles; warum nicht auch an gesalzenen Sirup?

Ja, wenn’s Erbsen, Linsen oder Labskaus gab, das war ein ander Ding! Wahre Festtage aber waren, für uns Jungen wenigstens, die sogenannten Puddingtage.

Sein Rezept zur Bereitung des kostbaren Puddings hatten wir ihm (dem Koch) bald abgelauscht. Er nahm Mehl, schüttete etwas Salz, Zucker und Sirup hinein, und, wenn er gut gelaunt war.

Da wurde denn das Möglichste geleistet im Puddingvertilgen. Auch im Vertilgen der Kekse stellten wir unseren Mann, dagegen wurde der arme Hering mit Verachtung gestraft. Morgens und nach dem Mittagessen gab’s Kaffee und Keks, abends Tee mit Keks und – wer es verlangte – Überbleibsel vom Mittagessen. Viele hoben sich selber etwas vom Mittagessen zum Abend auf.

Unser Koch, der seine Sache äußerst praktisch betrieb, schüttete an jedem Montag gleich den Kaffe für die ganze Woche in einen großen wollenen Beutel, der früher einmal seine Zipfelmütze gewesen sein mußte, denn es hing noch eine Quaste daran, deren einstige Farbe man freilich nicht mehr erkennen konnte. Jeden Tag nun wurde das nötige Quantum kochenden Wassers darauf gegossen. Auf diese Weise schuf er seinen Kostgängern einen untrüglichen Wochenkalender. Am Montag gab’s giftstarken Kaffee, dienstags etwas schwächer und so fort, bis wieder Montag war. Der Sonntagskaffee hieß nicht anders als Zipfelwasser. Genau ebenso verfuhr er mit dem Teeaufguß.“

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Im Zwischendeck befanden sich lauter unbemittelte Leute, die aber gewohnt waren, ihr Brot mit ihrer Hände Arbeit zu verdienen, ein Umstand, der gerade damals für Blumenau von großer Wichtigkeit war (Karl Kleine 1856).

Ankunft

Beim Anblick der urtümlich wilden, von dichtem Urwald bedeckten Natur verzweifelten viele. Andere gingen voller Elan und Tatkraft an die Arbeit.

Nichts als Wald, Wald, Urwald war hier zu sehen. Wir standen auf der schmalen Straße, die durch den Wald geschlagen und zum Teil wieder zugewachsen war. Neben uns lagen die Kisten, die wir mitgebracht hatten…. Was nun, wohin mit den Sachen? Der Wald konnte uns nicht aufnehmen, kein Schritt ließ sich dahinein tun, er war dicht wie eine Mauer…Und hätte es mein Leben gekostet, ich hätte die Tränen nicht zurückhalten können.“

(Emilie Heinrichs, die Frau des Auswanderers, Freiburg i.Br.1921)